Wie verarbeitet man traurige Kindheitserfahrungen?

Optionen
Hallo!
Ich bin gehbehindert (seit meinem zweiten Lebensjahr), laufe an Krücken. Ich habe in meiner Kindheit immer wieder die traurige Erfahrung gemacht, dass andere Kinder (auch Geschwister) Dinge tun konnte (Radfahren, Schlittschuhlaufen etc.), die ich nicht konnte. Da habe ich mich immer furchtbar ausgeschlossen und einsam gefühlt. Damals hab ich das zum Großteil verdrängt, weil ich zu klein war um es zu verarbeiten. Heute (ich bin jetzt über 20) kommen in entsprechenden Situationen plötzlich Gefühle von tiefster Traurigkeit und Sprachlosigkeit in mir hoch. Mein Freund hat das neulich mitbekommen als er sich ein Fahrrad gekauft hat. Da bin ich so traurig geworden, weil ich gemerkt hab, dass ich nicht Fahrradfahren kann, und er schien mir plötzlich ganz weit von mir entfernt - als wär da eine Mauer 🙁. Mein ganzes Selbstgefühl ist dann verschwunden und es kann Tage dauern, bis ich wieder "normal" und fröhlich wie sonst auch bin. Hat jemand eine Idee, was ich tun kann, um dieser Kindheitserfahrungen gefühlsmäßig Herr zu werden?

Antworten

  • Liebe Lotti!
    Ich kann Dich sehr gut verstehen.Auch ich habe in der Kindheit erlebnisse gehabt,mit denen ich zurechtkommen mußte.Auch ist mein Mann der einzige der mir diese geglaubt und mir stehts beigestanden hat.Da Du Dein Handicap wie viele mit uns,bereits seit Kindheit hast,hast Du Fähigkeiten entwickelt,die andere wiederum nicht haben.Heute habe ich mich so angenommen,wie ich bin und konnte bereits viel Gutes bewerkstelligen.Du solltest Deinem Freund die Freude des Radfahrens gönnen.Hast Du keine Möglichkeit -Mobil zu sein?
    Du hast in diesem Leben eine Aufgabe,die extrem Wichtig ist und das macht Dich wiederum zu einem besonderen Menschen.Du solltest nicht traurig sein.Als Kind hab ich immer die Kinder bewundert,denen man ihre körperlichen Gebrechen angesehen hat und mit Mut und Kraft den Tag gemeistert haben.Auch so manchen Unsinn hat der eine oder andere mit mir ausgetauscht.Mir selbst sieht man mein Leid nicht an und trotzdem ist es allgegenwärtig.Dadurch haben sich meine Werte extrem verändert.Ich habe gelehrnt Menschen so zu nehmen wie sie sind und vorurteile zur Seite zu stellen und manche erst näher kennenzulehrnen.Auch Gegenstände die mir helfen,nehme ich mit Freuden an und Selbstbewußt.Immer wieder gehen Menschen auf mich zu und sprechen mit mir oder wollen Ratschläge.Manche spreche ich selbst an,wenn ich das Gefühl habe,das irgendetwas an mir Ihre Neugier geweckt hat.Ich versuche immer offen zu sein.Habe aber eine gewisse Vorsicht anderen gegenüber mir bewahrt.Jeder Mensch ist etwas besonderes,er weiß es leider oft nicht.Finde es für Dich heraus,was an Dir besonders ist.Gruß Sendrine
  • Vielen Dank, Sendrine! Das was du schreibst stimmt absolut finde ich. Das sehe ich ganz genauso, dass ich den anderen all das gönnen sollte was ich nicht tun kann! Und ich versuche das ja auch! Meine Frage bzw. mein Problem ist nur: WIE MACHE ICH DAS? Ich suche sozusagen nach psychologischen Ratschlägen, die mir helfen, nicht in diese Traurigkeit reinzukommen in den entsprechenden situationen. Mein Kopf hat längst begriffen, dass ich nicht traurig sein muss und dass die anderen die dinge ruhig tun dürfen, die ich nicht kann! aber mein Herz fängt unmittelbar an zu bluten, sobald ich bspw. in ein Fahrradgeschäft gehe oder meinen Freund rennen seh (was ich nicht kann). Also wie kann ich mit psychologischen Mitteln oder Tricks mein Psychotrauma/das blutende Herz überlisten??? Weil es nervt mich zunehmend, dass ich als erwachsene Person bei so lächerlichen Ereignissen quasi wieder zum Kind werde und bitterlich heule und mich einsam und hilflos fühle!!!
    Aber trotzdem danke, Sendrine! Hab mich sehr über deine Antwort gefreut!

    Lg Lotti
  • Hallo,
    es wär schlimmer wenn du das alles gekonnt hättest und heute mußt du dann auf alles verzichten.
    Es Hilft dir nicht wenn du immer nach hinten schaust und nicht nach vorn.
    Ich weis das es nicht leicht ist aber helfen wird es dir.
    Ich hab das auch und kann es verstehen.
    Versuch enfach eine Lösung zu finden wie du mithalten kannst damit du nicht ausgeschlossen bist.
    Wenn ich mit dem Rolli unterwegs bin dann muß unsere Tochter schon das Fahrrad nehmen sonst kann sie nicht mit halten.
    Wie wär es denn wenn du mal schaust was du für möglichkeiten mit einem Rolli hättest
    und da gibt es viele sehr viele.
    Was hast du denn für eine Gehbehinderung es gibt ja auch Spezial Fahrräder mit denen wär das vieleicht möglich.
    Den kopf hängen lassen geht nicht aber Lösungen suchen schon also fang lieber an Lösungen zu suchen das bringt dich weiter.
    Gruß
    Herbi

  • Ja du hast recht... ich hab mich gestern schon umgeschaut wegen einem passenden Fahrrad für mich: da gibts ganz tolle holländische... das müsste klappen. Kostet allerdings 2400 Euro 😃 Mal schauen, ob ich mir das leiste... Rollstuhl kommt erstmal nicht in Frage - dazu kann ich zu gut laufen und mich zu gut auch mit den Beinen bewegen. Das wär schade, wenn ich meine Möglichkeiten nicht voll ausschöpfen würde. Also versuchs ichs mal mit diesem Spezialrad...
    Ansonsten kann ich erfreut feststellen, dass es mir schon geholfen hat, hier in diesem Forum mal alles loszuwerden 😀 Das ist glaub ich besser als alles runterzuschlucken! Also ich danke dir für deine Antwort!! 😀

    Lg Anne
  • Dann schau doch mal bei ebay vorbei da werden auch Fahrräder angeboten.
    Die sind dann vieleicht nicht so Teuer und wenn Du dann noch jemanden mit Geschickten Händen findest(dein Freund) der Fahrräder repariert und nach schaut hast du es günstiger.

    Du kannst aber auch mal bei Dir in der Umgebung schauen da gibt es auch Läden die gebrauchte Fahrräder verkaufen vieleicht findest du da etwas oder kannst da mal einen Zettel aufhängen mit dem was du suchst.
    Gruß
    Herbi
  • Hallo lotti,

    ich war nie traurig weil ich nicht die "gleichen" Dinge tun konnte wie andere, denn ich habe auf nichts verzichten müssen. Du solltest auch nicht traurig darüber sein. Es gibt genügend Möglichkeiten mit denen Du Deine Behinderung kompensieren kannst. Man muß diese Möglichkeiten nur kennen lernen. Dafür ist der Kontakt zu anderen Menschen mit Behinderung wichtig. Deshalb finde ich es gut das Du Deine Frage hier stellst. Du warst traurig weil Du es nicht anders wußtest. Dabei mußt Du nur nach einer Möglichkeit suchen, die "gleichen" Dinge tun zu können wie Nichtbehinderte.

    Du kannst Fahrad fahren wenn Du möchtest. Ich tue es auch. Ich nehme sogar mit meinem Fahrrad an Marathon-Veranstaltungen teil. Oder ich mache Ausflüge mit dem Fahrrad, fahre mit dem Fahrrad zum Einkaufen oder zur Arbeit. Eben all das, was jeder mit dem Farrad macht. Ich habe zwei Fahrräder. Beide haben statt Pedalen Kurbeln und werden mit den Armen statt mit den Beinen gefahren. Es sind Handbikes. Ein Handbikes kann ich an meinen Rollstuhl dran schrauben und das andere ist wie ein Liegerad. Jeder kann Handbike fahren. Egal ob mit gesunden Armen oder Händen oder nicht.

    Genauso ist es mit vielen anderen Sportarten. Es gibt fast nichts, was Menschen mit Behinderung nicht tun können. Sie tun es auf ihre Weise mit speziell für ihre Behinderung angepaßten Hilfsmitteln und Sportgeräten.

    Gruß Karin
  • Liebe Lotti,

    du schreibst, dass du nach psychologischem Rat suchst. Ich habe unseren Psychologen Tim bereits auf diesen Thread hingewiesen. Da er nur zweimal pro Woche hier im Haus ist, wird er dir sicher am 14./15 Sept., wenn er wieder da ist, antworten.
    Es besteht auch die Möglichkeit, mit Tim außerhalb des Forums zu kommunizieren. Ganz wie du es möchtest.

    Viele Grüße,

    Iris, Redaktion MyHandicap
  • ich bin seit klein auf sehr aktiv gewesen aber habe vor > 1 jahr rechts hand / handgelenk verloren. damit gingen einige sehr schoene hobbies weg aber deswegen muss man nicht rumsitzen.

    erstens gibt es dinge, die kann man einfach aufgeben. bis vor 5 jahren bin ich zb. wie ein weltmeister skigefahren, dann hatte ich es echt satt, mehr als genug. jetzt vermisse ich es nicht mehr. aber zweitens gibt es sachen, die muss ich einfach machen, ich beiss mich da rein. ich spiele auch mit einer hand bass und e-gitarre, das habe ich mir einfach eingebildet, das muss einfach sein. das zieh ich durch und ha, ha, es geht auch.

    es muss auch nicht objektiv noetig sein. auch fahrradfahren - mountain biken, genauer gesagt - oder skifahren war bei mir frueher objektiv gesehen echt unnoetig. dabei habe ich mehrfach zt schwer die knie verletzt, mehrere brillen geschrottet, ellbogen und knie groeber aufgeschlagen, zwar immer einen helm getragen aber sonst schon die geschwindigkeit geliebt - aber ich stand wieder da, wollte immer weiter machen und liebte es, ich liebte es wahrhaftig. es ist dann vollkommen wurst, wenn man mal etwas "bumm" erlebt, wenn es eine sache ist von der du weisst, dass du es tun *musst*. dann ist es das groesste und die welt voller jubel 😀

    fuer mein mountain bike habe ich einen bremskraftverteiler gesucht und gefunden. die firma hat ihn mir mit rabatt verkauft, weil sie so freundlich und nett waren und mitleid hatten. mein velo mechaniker hat ein auge verloren und grosses verstaendnis fuer behinderungen. er hat meine gangschaltungshebel fuer 1-hand-betrieb umgebaut, liebevoll und kompetent. es brauchte eine weile, jetzt ist alles tiptop 😀 seither bin ich am 1-haendig stabil fahren ueben.

    und so solls sein. wenn dir schlittschuhfahren und das verbundene gefuehl etwas bedeutet, muss ich dir dringend raten, es - vorsichtig! - aber um alles in der welt anzufangen. und zwar sofort. deine seele geht sonst stueckweise drauf. erst so mit schuhen aufs eis, dann mit jemandem der dir hilft, sich reinfuehlen und es lernen. du musst auch fahrradfahren, es muss kein teures velo ein, fang mit stuetzraedern an, lerne es und nimms locker. einfach alle tips und infos nehmen, schauen, probieren, und so weiter. ein hobby muss nicht teuer sein, ebay, tauschboersen, man muss sich da mal etwas kuemmern. immer vorsichtig, wenns einen auf den hintern haut ist das egal, das passiert allen, tut allen weh, wird wieder. aufstehen und weiter 😀


  • Liebe Lotti,
    vielen Dank für Deinen essentiel wichtigen Beitrag und danke für die tollen, inspirierenden Tipps der Community.
    Mir scheint Du befindest dich auf einem sehr guten Weg.
    Die Trauer könnte man als die Vergangenheit bezeichnen und in jedem Menschen ist die Vergangenheit auf irgendeine Weise aktiv und beeinflusst ihn. Jetzt kommt die Trauer von früher hoch, das ist deine Medizin von heute. Das Leben hilft Dir, es heilt. Man kann Trauer - aus meiner Sicht - nicht besiegen oder austricksen als wäre sie ein "Feind". Es kann hilfreich sein die Trauer wie einen Freund zärtlich zuzulassen, sie zu fühlen, ihr nicht auszuweichen, sie zu umarmen und über die Tränen sanft verdampfen zu lassen, das kann sehr befreiend sein. Dieses hilflose, sprachlose Kind von früher (das du erkannt hast, das ist toll) möchte geheilt werden und das kann geschehen, indem Du es liebevoll in Deinem Erleben annimmst. Du bist vollkommen in Ordnung und es ist total wurscht, wenn Du nicht immer "erwachsenengemäss" reagierst. Die Annahme des Schmerzes kann manchmal ein wenig schwer fallen, aber die direkte Annahme, ein direktes sich Fallenlassen in den Schmerz kann die direkte Heilung sein. Die eigene Verletzlichkeit zuzulassen wird - aus meiner Sicht - manchmal fälschlicherweise als Schwäche aufgefasst, es ist aber in Wahrheit die essentielle, menschliche Stärke. Ich denke es besteht bei solchen Trauerprozessen nur ein Problem: Sich in Melancholie zu verlieren. Also einfach parallel mutig das Leben weiterleben, geniessen und es als Abenteuer, als fortwährende Herausforderung zu betrachten. Du bist in Deiner Einzigartigkeit wunderschön und nimmst einen wesentlichen, unentbehrlichen Platz in der Sinfonie des Lebens ein. Fühle Dich eingeladen mir eine Privatmail zu schreiben, wenn Dir der Sinn danach stehen sollte.
    herzliche Grüsse
  • huhu lotti ,

    der thread ist ja schon älter aber für mich sehr interessant. seid meiner jugend laufe ich auch mit krücken. ich möchte auch gern ein spezialrad haben und fange jetzt an mich drum zu kümmern. 😀

    ich wollte dich fragen wie es dir mitlerweile geht und ob du dein inneres trauriges kind trösten konntest?

    hin und wieder überkommt mich auch eine tiefe trauer, obwohl ich schon 35 jahre alt bin und solange schon mit meinem handicap lebe.... zum glück sind es meist nur kurzfristige momente die mich da heimsuchen u. gelegentlich sehr runterziehen...aber eine tiefe trauer wird innerlich immer ein wenig bleiben denke ich. solange es wirklich nicht zum dauerzustand wird (zB.depression), kann man denke ich lernen damit umzugehen. die welt ist nun mal ungerecht. aber man kann versuchen das beste daraus zu machen. jeder mensch hat seine vorzüge. 😉


    hast du mitlerweile vielleicht sogar ein spezialrad? falls ja wo hast du es erworben?

    würde mich sehr freuen von dir zu hören.
    glg
    blue
    😛
  • Hallo Blue,

    sei herzlich willkommen im Forum.

    leider steht sehr wenig in deinem Profil zu dir als Person, doch auch zu deiner Schädigung / Behinderung. Vielleicht könntest du dies ein wenig ergänzen, ein wenig ändern. Wäre ein ganz kleiner Schritt in unsere Richtung, für Uns- um dich ein Stück näher dem Licht der Sonne zuzuführen. Gemeinsam, zusammen gehts `leichter, ist versprochen, - Mfg Lyn 😉
  • Ich denke, jeder hat in seiner Kindheit hässliche Erlebnisse gehabt, und als Kind nimmt man sich so etwas besonders zu Herzen. Ich versuche traurige Kindheitserfahrungen immer so zu verarbeiten, indem ich eine neue Geschichte mit einem Happy End kreiere bzw. ich schreibe die Kindheitsgeschichte neu.
  • Liebe Lotti,
    bei mir, bzw. bei meiner Tochter ist das gerade auch so. Sie ist 11 Jahre jung und zur Zeit nicht Fisch und nicht Fleisch. Letztes Jahr im April wurde bei ihr Epiphyseolyses(Riss der Wachstumsfuge)in der re. Hüfte festgestellt. Zusicherheit wurden beide Hüften mit je 4 Stahlstiften versehen. Sie hat 10 Wochen im Rollstuhl gesessen und ist lang an Krücken gegangen. Sie musste schon ihren Berufstraum verwerfen - sie wollte Tierpflegerin werden. Das geht aber nicht weil sie nie schwer körperlich arbeiten kann und darf. Sie wird nie mehr Sport machen können, nie Tanzen lernen und und und.
    Vor 4 Wochen musste sie wieder an der rechten operiert werden. 2 Stäbe saßen falsch und sie hatte starke schmerzen. 22.6 Op -24.8 Entlassung und am 01.7 ist sie in der Schule den Sponsorenlauf auf Krücken mit gelaufen (und ärzlichem OK) sie ist 9 km mitgelaufen und ist jetzt der Star an der Schule. Alle Schüler und Lehrer kennen jetzt mein Kind und alle sind megastolz auf sie. Sie musste sogar zum Rektor und sie bekommt für ihren Einsatz sogar eine Belobigung. Das Geld das erlaufen wurde ist für eine Kletterwand mit mehren Schwirigkeitsgrade und auch diese wird meine Tochter nie benutzen können oder dürfen, aber sie hat sich für ihre Mitschüler eingesetzt und das ist, finde ich, sehr wichtig.
    Sie sieht jetzt was sie kann und sie hat sich mal eine Liste gemacht von Dingen die sie kann und nicht ihre Klassenkammeraden.

    Ich selbst bin auch gehbehindert - aber ich finde es nicht wichtig immer nur zu sehn was ich alles nicht kann - sonder ich finde es schöne zu sehn was ich kann.

    Überleg mal was du so alles kannst!

    Gruß elektra68
Diese Diskussion wurde geschlossen.