Vom Druck Leistung erbringen zu müssen

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Hallo liebe Community,

ich bin noch ganz neu hier im Forum und hoffe & wollte euch gerne von der Geschichte meines Freundes erzählen, mit dem ich seit 8 Jahren zsm bin, weil ich niemanden in meinem Umfeld kenne, der in einer Konstellation lebt wie wir.

Mein Freund kam zu früh mit mehreren körperlichen Schäden zur Welt (bspw. am Herzen eine Mitralklappeninsuffizienz; Streckhemmung beider Arme; beidseitig einen Senk-, Spreiz- und Sichelfuß, der ihm neben Arthrose in den Gelenken abwärts der Hüfte besonders Schmerzen bereitet). Er hat einen GdB von 50. Davor hatte er einen GdB von 80, welcher mit Eintreten der Volljährigkeit wohl automatisch auf 50 heruntergesetzt worden ist. Weil zu dieser Zeit sein Vater tödlich verunglückt ist und er sich ums Geld er dienen und seine Mutter gekümmert hat, die wegen des Unfalls unter Depressionen gelittet hat (ist zum Glück seit einigen Jahren symptomfrei).

Ich habe keine Behinderung. Kennengelernt haben wir uns online über unset Hobby. Das war zum Ende meiner Schulzeit hin. Wir haben uns nach kurzer Zeit sehr intensiv ineinander verliebt und bis 2019 eine Fernbeziehung (ca. 130km Entfernung) geführt. Er hat mir bereits zu Beginn reinen Wein eingeschenkt & mir nichts vorgemacht. Einfach offen von sich und seiner Geschichte erzählt. Das fand ich klasse und sehr aufrichtig!

Dass wir uns bis heute einander verbunden fühlen, ist so ein großes Glück für uns, denn wir mussten uns nach außen hin ganz schön behaupten! Meine Familie war sehr gegen die Beziehung, da er lange keine Ausbildung hatte (davor eine abgebr. Malerausbild. wg. dem Tode des Vaters & dazwischen eine abgebr. Ausbildung zum Bürokaufm. wg. seiner LRS und der dortigen Didaktik) & immer wieder mal gejobt hat, wenn es ihm gerade gut ging (bspw. Automobilfertigung, Gastronomie, Einzelhandel). Sie hatten totale existentielle Sorgen um mich, was sie soweit dazu getrieben hat, meinen Freund immer wieder (mal mehr, mal weniger subtil) zu verunglimpfen & mich emotional zu erpressen. Dies machten wir 4 Jahre mit & es schweißte uns umso mehr aneinander. Ich merkte in dieser Zeit auch, dass es mir nichts ausmachte, wenn ich zukünftig das Einkommen heranschaffe. Hauptsache, er ist glücklich & ihm geht es gut! Deshalb wurde ich mir meinem Privileg bewusst, dass ich beruflich alles machen kann, was ich möchte & er sein Glück höchstens in anderen Bereichen des Lebens suchen kann. Der Konflikt gipfelte dann schließlich darin, dass mir meine Familie versuchte mich zu einer Trennung von meinem Freund zu erpressen, damit das Verhältnis zur Familie wieder besser werden könne. Weil ich in damals so am Ende war, nahm ich professionelle Hilfe in Anspruch, entschied mich für meinen Freund & unterbrach den Kontakt zu meiner Familie für ca. ein Jahr. Danach folgte ca 2 Jahre später erneut ein Kontaktabbruch von meiner Seite für einige Monate, weil das Vertrauen nachhaltig erschüttert ist. Erst jetzt schaffe ich es sporadisch und oberflächlich Kontakt zu meiner Familie zu halten.

Nun hat mein Freund eine Ausbildung zum Sozialassistenten absolviert (inkl. Praktikas in Kitas und ambul. Pfleged.) und hatte ursprünglich geplant, seinen Erzieher daran anzuschließen. Allerdings sieht er seit einiger Zeit keinen Sinn mehr darin. Dies hat etwas mit negativen Erfahrungen zu tun, die er während seiner Ausbildung gesammelt hat. Mein Freund hat nebenbei im gleichen Betrieb gearbeitet wie ich, wo unser früherer Chef sehr erniedrigend mit ihm umgegangen ist. So durfte er bspw. in Teamsitzungen nichts äußern, weil er "nur der ungelernte Hilfsarbeiter ist." Hierzu sei gesagt, dass unserer früherer Chef sein damaliger Freund war, der für seine Selbstständigkeit noch MA für die Gründung brauchte. Ich kündigte irgendwann wegen der Arbeitsbedingungen dort & mein Freund wurde exakt 4 Wochen später fristlos & zu Unrecht gekündigt.

Jedenfalls beendete mein Freund trotzdem Anfang 2021 seine Ausbildung mit Auszeichnung. Er war der beste Schüler seines Jahrgangs, wofür ihn die Schule fast für eine anschließende Ausbildung übernommen hätte. Was die Schule dazu bewegte ihn nicht zu übernehmen, waren seine Fehlzeiten. Diese kamen zustande, weil er aufgrund akuter Schmerzen sich kaum bewegen, geschweige denn konzentrieren konnte. Davon abgesehen, hat das E-Learing nicht so gut funktioniert, wie es sollte. Auch Teile seiner Lehrkräfte waren angesichts der neuen Situation überfordert, weshalb ich nach meinem Feierabend mit ihm zusammen den Stoff lernte. Benotet werden konnte er mittels Ersatzleistungen, die er mit jedem Lehrer und jeder Lehrerin individuell abstimmte.

Was bei meinem Freund nun nach mehreren Enttäuschungen im Berufsleben zurückbleibt, ist das Gefühl den Ansprüchen doch nicht zu genügen, ganz gleich, wie sehr er sich angestrengt hat. Daraus resultierte dann auch das nagende Gefühl nicht gebraucht zu werden. Ich fragte ihn immer wieder mal, was er gern gemacht hätte, wenn er gesund zur Welt gekommen wäre. Seine Antwort war stets: "Ich wäre Koch geworden. Wäre mir egal gewesen, wie anstrengend das ist oder dass man sich anschreien lassen muss." Und in der Tat kocht er zu Hause richtig gerne & backt ab & an auch was leckeres! Er sieht sich außerdem gerne Kochvideos an (insbesondere Streetfood aus anderen Ländern), notiert sich Rezepte & kocht sie dann nach.

All das kann ihn momentan nicht zum Weitermachen motivieren, zumal er gerade erneut in einer Schmerzphase steckt, die zusätzlich auf die Hoffnung drückt. Ich fragte ihn, was er im Moment von mir brauche und ob wir nicht mal zusammen zum Arzt gehen sollten, woraufhin er mir sagte: "Sei einfach für mich da. Das schlimmste für mich ist, wenn ständig jemand was von mir will und Druck macht a la du musst und jetzt tu doch mal endlich was." Das hat mich sehr zum Nachdenken angeregt, was man als Mensch ohne Behinderung manchmal von seinen Mitmenschen mit Behinderung erwartet - je näher, desto schlimmer, denke ich mir manchmal. Zu was Druck erzeugen kann, habe ich ja anhand meiner Familie erfahren, die es im Grunde genommen ja auch nur gut meinte (und wahrscheinlich wieder nur gut meinen wird, wenn sie erfahren, dass mein Freund derzeit "wieder nicht arbeitet"). Bevor ich diese Plattform hier fand, habe ich in meiner Traurigkeit auf Social Media recherchiert und einen sehr interessanten Beitrag gefunden, den ich gern mit euch teilen wollte, weil er die Erfahrungen meines Freundes gut zsmfasst:

"Was ich mich dabei seit langem frage: Gibt es einen Zwang zur Gesundheit? Ist es unsere Aufgabe und unsere Pflicht, uns gesund zu halten? Denn es scheint ja außer Frage zu stehen, dass sich kranke Menschen um Genesung zu bemühen haben. Wer zu lange krank ist, wird abschatzig beäugt. Was wir erwarten sind gute Kranke, also solche, die sich mindestens mit aller Kraft anstrengen, nicht krank zu sein. Zeitschriften und Reportagen sind voll von Berichten über jene, die ihre Krankheit überwunden haben - oder zumindest trotzdem so nah am Funktionieren sind wie gesunde Menschen. Wer sich nicht anstrengt und sich seiner Krankheit ergibt, wird hingegen unsichtbar, irrelevant, ein jämmerlich Waschlappen.

Das, was wir meinen, wenn wir von Gesundheit sprechen, ist meistens Funktionalität, Leistungsfähigkeit, Normierung. Niemand spricht von Wohlbefinden. Denn das muss man sich überhaupt erstmal verdienen. Die Arbeitszeit reduzieren, Erfolg hinten anstellen, das bewundern wir bei CEO's - nicht aber bei Arbeiter*innen, denn von denen schaffen nur faule Schwächlinge ihre 40 Stunden nicht. Ein gesünder Lebensstil ist zufälligerweise letztlich das, was sich gut verkaufen lässt - und uns arbeitsfähig hält."

Vielen lieben Dank fürs geduldige Lesen und quasi Zuhören. Was würdet ihr meinem Freund in seiner verzwickte Lage raten? Und wie sind eure Erfahrungen (generell und mit Zurückweisung) im Arbeitsleben?

Liebe Grüße, Kaffeebohne

Beste Antwort

  • StefanNRW
    StefanNRW ✭✭
    Antwort ✓
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    Dein Freund hat eine Partnerin, er kann sich also ziemlich glücklich schätzen. Viele Menschen mit Handicap haben da so etwas nicht. Raten kann ich im wesentlich, sich mit der Lebenssituation anzufreunden, d.h. mit dem Lebensstandard. Ehrenamtliche Sachen vielleicht zu machen, wenn er da etwas findet, was ihm Spaß macht.

Antworten

  • @Kaffeebohne Hallo Kaffeebohne,

    willkommen in unserer Community.

    Toll, dass du so ausführlich über dich und deinen Freund geschrieben hast. Das war bestimmt nicht leicht.

    Wir haben auf unserer Webseite einige informative Artikel zum Thema Ausbildung mit Behinderung

    Partnerschaft und Behinderung

    und auch zu Depression und Leistungsdruck

    Vielleicht ist ja etwas hilfreiches für euch dabei.

    Viel Spaß beim lesen und austauschen mit unseren Forenusern.

    Schön, dass du dabei bist.

    Viele Grüße

    Annemarie

    A collective EnableMe profile for former moderators' posts

    Ein kollektives EnableMe-Profil für die Beiträge ehemaliger Moderatoren

    Un profil collectif EnableMe pour les messages des anciens modérateurs

    Колективний профіль EnableMe для дописів колишніх модераторів

  • [Gelöschter Benutzer]
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    OT

    Der Beitrag von Stefan müsste doch an letzter Stelle stehen. Ist aber nach oben gerutscht, da er als "beste Antwort" bewertet wurde (nochmal: von wem?). Jedenfalls finde ich dieses System unübersichtlich und verstehe es nicht, tut mir leid.

    Grüße

  • Prian0815
    Prian0815 ✭✭✭
    bearbeitet 20. Okt 2021, 13:37
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    vielleicht liegt es daran dass diese Antwort als 'beantwortet' markiert wurde oder mehr Likes hat. Beides macht aus programmiertechnischer Sicht Sinn. Ich kann mir nicht vorstellen, daß hier jemand händisch Antworten bewertet.

    P. S. Meine Annahme wurde eben im Thread 'defekter Link' von Boryana bestätigt.

    Mit den besten Grüßen aus dem Frankenland.

    P. S. always look on the bright Side of Life! 😍

  • Liebe Kaffeebohne

    Der Text ist mir zu lang. Deshalb muss ich fairerweise gestehen, dass ich nicht alles gelesen habe. Aber kurz zu deiner Frage: Gibt es einen Zwang zur Gesundheit?

    Die Frage ist eher, was versteht das Individuum unter Gesundheit? Man kann Blind sein und sich trotzdem gesund fühlen. Es ist also eher eine Frage der persönlichen Sichtweise, was Krankheit und Gesundheit ist oder man nennt das auch das Prinzip der "Salutogenese".

    Weiter kommt hinzu, dass es den Begriff "sekundärer Krankheitsgewinn" gibt. Das bedeutet, eine chronische Erkrankung kann für Betroffene auch dazu führen, dass sie sich behütet und umsorgt fühlen und deshalb nicht das für sie Nötige tun um wieder in eine gesunde Balance zu kommen. Dies hat sehr viel mit psychologischen Verhaltensmustern zu tun und laufen meist unbewusst ab.

    Ich denke wenn du dich mal mit den beiden Themen auseinandersetzt, kannst du dir eventuell mehr unter dem Bild "Was ist Krankheit, was ist Gesundheit" vorstellen.

    Lieben Gruss

    Priska

    Dipl. Naturheilpraktikerin TEN und Neurofeedback-Therapeutin


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